Die Darm-Hirn-Achse
Die Darm-Hirn-Achse (GBA, gut-brain axis) beschreibt die enge Verbindung und den intensiven Informationsaustausch zwischen Darm und Gehirn, der in beide Richtungen stattfindet. Ein zentrales Element dieser Kommunikation ist das Nervensystem. Im Verdauungstrakt befinden sich etwa 100 Millionen Nervenzellen – das sind vier- bis fünfmal so viele wie im Rückenmark. Deshalb wird der Darm oft als unser “zweites Gehirn” bezeichnet. Dieses sogenannte enterische Nervensystem, auch “Bauchhirn” genannt, arbeitet mit dem “Kopfhirn” zusammen, um unter anderem die Bewegung der Darmmuskulatur (Darmmotilität), den Blutfluss im Verdauungstrakt und die immunologische Funktion des Darms zu regulieren.
Die Darm-Hirn-Achse ist demnach ein bidirektionales Kommunikationsnetzwerk, das das zentrale Nervensystem (ZNS) und das enterische Nervensystem (ENS) miteinander verbindet und dabei den Magen-Darm-Trakt und das Gehirn umfasst. Die Darm-Hirn-Achse ist komplex und umfasst neuroanatomische und neurochemische Kommunikationswege, die vom zentralen Nervensystem bis zum Darmmikrobiom reichen. In den letzten Jahren hat die Wissenschaft zunehmend erkannt, dass das Mikrobiom des Darms eine wichtige Rolle in dieser Kommunikation spielt und dass Probiotika möglicherweise eine wichtige Rolle bei der Modulation der Darm-Hirn-Achse einnehmen könnten.
Die Darm-Hirn-Achse umfasst mehrere Kommunikationswege:
Neurale Mechanismen: Der Vagusnerv spielt eine wesentliche Rolle bei der Vermittlung von Signalen zwischen dem Darm und dem Gehirn und ist somit ein zentraler Teil der Darm-Hirn-Achse. Dieser Nerv kann sowohl sensorische als auch motorische Informationen übertragen und ist entscheidend für die bidirektionale Kommunikation.
Endokrine Mechanismen: Hormone wie Kortisol und andere Stresshormone beeinflussen sowohl den Darm als auch das Gehirn. Die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HPA-Achse) spielt dabei eine Schlüsselrolle.
Immunologische Mechanismen: Zytokine und andere Entzündungsmediatoren können ebenfalls Signale zwischen Darm und Gehirn übertragen und so das Verhalten und die kognitive Funktion beeinflussen.
Metabolische Mechanismen: Kurzkettige Fettsäuren (short-chain-fatty-acids-SCFAs), die durch die Fermentation von Ballaststoffen im Darm produziert werden, können systemisch wirken und das Gehirn beeinflussen.
Das Mikrobiom
Das menschliche Darmmikrobiom besteht aus Billionen von Mikroorganismen, einschließlich Bakterien, Viren, Pilzen und Protozoen. Diese Mikroorganismen spielen eine entscheidende Rolle bei der Aufrechterhaltung der Homöostase und Gesundheit des Wirts. Einige der wichtigsten Funktionen des Mikrobioms umfassen:
Verdauung und Nährstoffabsorption: Das Mikrobiom hilft bei der Verdauung von Nahrungsmitteln, die sonst für den Menschen unverdaulich wären, und trägt zur Aufnahme von Nährstoffen bei.
Immunsystemmodulation: Das Mikrobiom spielt eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung und Funktion des Immunsystems. Es hilft bei der Abwehr von Krankheitserregern und der Aufrechterhaltung einer ausgewogenen Immunantwort.
Metabolische Regulation: Mikrobielle Metaboliten wie kurzzeitige Fettsäuren (short-chain-fatty acids-SCFAs) haben vielfältige systemische Wirkungen, einschließlich der Beeinflussung des Energiestoffwechsels und der Modulation von Entzündungen.
Neuroaktive Substanzen: Einige Darmbakterien können Neurotransmitter wie Serotonin, Dopamin und Gamma-Aminobuttersäure (GABA) produzieren, die eine direkte Wirkung auf das zentrale Nervensystem haben können.
Das Mikrobiom und die Darm-Hirn-Achse
Das Mikrobiom beeinflusst die Darm-Hirn-Achse auf mehrere Weisen:
Produktion von Neurotransmittern und Neuromodulatoren: Bestimmte Bakterien im Darm können Neurotransmitter und deren Vorläufer produzieren. Beispielsweise wird geschätzt, dass etwa 90% des körpereigenen Serotonins im Darm produziert wird.
Einfluss auf die Barrierefunktion: Das Mikrobiom trägt zur Integrität der Darmbarriere bei. Eine gestörte Darmbarriere kann zu einer erhöhten Durchlässigkeit führen, was als “Leaky Gut” bezeichnet wird. Dies kann Entzündungsmediatoren und Toxine in den Blutkreislauf gelangen lassen und möglicherweise neuroinflammatorische Prozesse auslösen.
Immunmodulation: Das Mikrobiom interagiert eng mit dem Immunsystem und kann die Produktion von Zytokinen und anderen Immunmodulatoren beeinflussen, die wiederum das Gehirn beeinflussen können.
Metabolische Produkte: Metaboliten wie kurzzeitige Fettsäuren (short-chain-fatty-acids-SCFAs) haben entzündungshemmende Eigenschaften und können die HPA-Achse (Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse) modulieren, was sich auf das Stressverhalten und die kognitive Funktion auswirken kann.
Wie wirkt sich Stress auf das Mikrobiom aus?
Stress kann erhebliche Auswirkungen auf das Mikrobiom im Darm haben. Hier sind einige der wichtigsten Wege, wie Stress das Mikrobiom beeinflussen kann:
Veränderung der Mikrobiellen Zusammensetzung: Stress kann das Gleichgewicht der Mikroorganismen im Darm stören. Dies kann zu einem Anstieg schädlicher Bakterien und einem Rückgang nützlicher Bakterien führen, was das Mikrobiom aus dem Gleichgewicht bringt.
Erhöhte Durchlässigkeit der Darmbarriere: Stress kann die Integrität der Darmbarriere beeinträchtigen, was zu einem sogenannten “Leaky Gut” führen kann. Dies bedeutet, dass unerwünschte Substanzen wie Toxine und Krankheitserreger leichter in den Blutkreislauf gelangen können, was Entzündungen und andere gesundheitliche Probleme verursachen kann.
Beeinträchtigung der Verdauungsprozesse: Stress kann die Verdauung verlangsamen oder beschleunigen, was die normale Funktion des Darms stören kann. Dies kann zu Symptomen wie Durchfall, Verstopfung und Magenbeschwerden führen.
Einfluss auf das Immunsystem: Stress kann das Immunsystem schwächen, was wiederum die Fähigkeit des Körpers beeinträchtigt, schädliche Mikroben im Darm zu kontrollieren. Dies kann zu einem Ungleichgewicht im Mikrobiom führen und das Risiko von Infektionen und Entzündungen erhöhen.
Reduktion der Produktion von Schleim und anderen Schutzstoffen: Stress kann die Produktion von schützenden Schleimstoffen im Darm reduzieren, was die Darmwand anfälliger für Schäden und Infektionen machen kann.
Änderung der Ernährungsgewohnheiten: Stress kann auch zu ungesunden Ernährungsgewohnheiten führen, wie dem Verzehr von zucker- und fettreichen Lebensmitteln, die das Mikrobiom negativ beeinflussen können.
Insgesamt kann chronischer Stress das Mikrobiom erheblich stören und zu einer Vielzahl von gesundheitlichen Problemen beitragen. Es ist daher wichtig, Stressbewältigungsstrategien zu entwickeln, um die Gesundheit des Darms und des gesamten Körpers zu unterstützen.
Welche psychischen Erkrankungen können im Zusammenhang mit dem Mikrobiom stehen?
Es gibt mehrere psychische Erkrankungen, die mit dem Mikrobiom in Verbindung gebracht werden und auf die Darm-Hirn-Achse zurückzuführen sind. In ihrer Übersichtsarbeit zeigen Morais et al. (1), dass dazu unter anderem Autismus, neurogenerative Erkrankungen wie Parkinson oder aber Depression und Angsstörungen gehören. Hier sind einige der wichtigsten:
Depression: Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass ein Ungleichgewicht im Darmmikrobiom eine Rolle bei der Entwicklung und Aufrechterhaltung von Depressionen spielen kann. Bestimmte Bakterienstämme sind bei depressiven Menschen oft in geringerer Anzahl vorhanden, und die Einnahme von Probiotika hat in einigen Studien zu einer Verbesserung der Symptome geführt.
Angststörungen: Ähnlich wie bei Depressionen gibt es Hinweise darauf, dass das Darmmikrobiom Angststörungen beeinflussen kann. Veränderungen im Mikrobiom können die Stressreaktion des Körpers beeinflussen und so zu erhöhter Angst beitragen.
Autismus-Spektrum-Störungen (ASD): Es gibt zunehmende Beweise dafür, dass das Darmmikrobiom bei der Entwicklung von ASD eine Rolle spielen könnte. Kinder mit ASD haben oft ein anderes Mikrobiom-Profil als neurotypische Kinder, und Veränderungen im Mikrobiom können mit der Schwere der Symptome korrelieren.
Schizophrenie: Einige Studien haben gezeigt, dass Patienten mit Schizophrenie ein verändertes Darmmikrobiom haben. Es wird vermutet, dass diese Veränderungen zur Pathophysiologie der Erkrankung beitragen könnten, obwohl die genauen Mechanismen noch unklar sind.
Bipolare Störung: Bei Menschen mit bipolarer Störung wurden ebenfalls Veränderungen im Darmmikrobiom festgestellt. Diese Veränderungen könnten mit den Stimmungsschwankungen und anderen Symptomen der Erkrankung in Verbindung stehen.
Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS): Es gibt Hinweise darauf, dass das Darmmikrobiom die Stressreaktion und das Risiko für die Entwicklung von PTBS beeinflussen kann. Veränderungen im Mikrobiom könnten die Empfindlichkeit gegenüber Stress erhöhen und so zur Entwicklung von PTBS beitragen.
Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS): Bei Kindern mit ADHS wurden Unterschiede im Darmmikrobiom festgestellt. Es wird vermutet, dass diese Unterschiede die neurobiologischen Mechanismen beeinflussen könnten, die zu ADHS führen.
Für weitere Informationen zum Zusammenhang von psychischen Erkrankungen und dem Mikrobiom, empfehlen wir Euch auch unseren Beitrag zu Psychobiotika. Die genauen Mechanismen, durch die das Mikrobiom diese psychischen Erkrankungen beeinflusst, sind noch nicht vollständig verstanden. Es wird jedoch angenommen, dass sie durch eine Kombination aus immunologischen, neurochemischen und endokrinen Wegen wirken. Weitere Forschung ist notwendig, um diese Zusammenhänge besser zu verstehen und mögliche therapeutische Ansätze zu entwickeln.
Probiotika und ihre Rolle in der Darm-Hirn-Achse
Probiotika sind lebende Mikroorganismen, die, wenn sie in ausreichender Menge aufgenommen werden, gesundheitliche Vorteile für den Wirt bieten. Sie können das Mikrobiom und somit auch die Darm-Hirn-Achse auf vielfältige Weise beeinflussen (2). Konkret gehört dazu:
Wiederherstellung des Mikrobioms: Probiotika können helfen, ein gestörtes Mikrobiom wieder ins Gleichgewicht zu bringen, indem sie nützliche Bakterienstämme einführen, die die Diversität und Stabilität des Mikrobioms erhöhen und somit einen großen Einfluss auf die Darm-Hirn-Achse ausüben.
Produktion von Neurotransmittern: Bestimmte Probiotika-Stämme, wie Lactobacillus und Bifidobacterium wirken auch auf die Darm-Hirn-Achse, indem sie die Produktion von Neurotransmittern und neuromodulatorischen Substanzen fördern, was sich direkt auf die neuronale Kommunikation auswirken kann.
Stärkung der Darmbarriere: Probiotika können die Darmbarrierefunktion verbessern, indem sie die Produktion von Tight Junction-Proteinen fördern und die Integrität der Darmschleimhaut aufrechterhalten.
Immunmodulation: Probiotika können das Immunsystem modulieren, indem sie die Produktion von entzündungshemmenden Zytokinen fördern und die Aktivität von regulatorischen T‑Zellen stimulieren.
Reduktion von Stress und Angst: Studien haben gezeigt, dass bestimmte Probiotika die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HPA-Achse) modulieren und die Reaktion auf Stress reduzieren können. Die HPA-Achse wird vereinfacht auch als „Stressachse“ bezeichnet. Dies kann zu einer Verringerung von Angst und Depression beitragen.
Forschung und klinische Anwendung
Die Forschung zur Darm-Hirn-Achse und der Rolle des Mikrobioms und von Probiotika ist noch relativ jung, aber die bisherigen Ergebnisse sind vielversprechend. Studien an Tieren und Menschen zur Darm-Hirn-Achse haben gezeigt, dass Veränderungen im Mikrobiom mit einer Vielzahl von neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen in Verbindung gebracht werden können, darunter Angstzustände, Depressionen, Autismus und neurodegenerative Erkrankungen wie Parkinson und Alzheimer.
Klinische Studien, die Probiotika zur Behandlung dieser Erkrankungen einsetzen, haben gemischte Ergebnisse gezeigt. Einige Studien berichten von signifikanten Verbesserungen der Symptome, während andere keine signifikanten Unterschiede feststellen konnten. Diese Diskrepanzen könnten auf Unterschiede in den verwendeten Probiotika-Stämmen, Dosierungen, Studiendesigns und den individuellen Mikrobiom-Profilen der Teilnehmer zurückzuführen sein. Für weitere Informationen zum Potential von Probiotika zur Behandlung von psychischen und neurologischen Erkrankungen, empfehlen wir Euch auch unseren Beitrag zu Psychobiotika.
Fazit
Die Darm-Hirn-Achse repräsentiert eine faszinierende Schnittstelle zwischen Neurologie und Gastroenterologie, die unser Verständnis von Gesundheit und Krankheit erweitert. Das Mikrobiom spielt eine zentrale Rolle in der Darm-Hirn-Achse und beeinflusst zahlreiche physiologische Prozesse, die das Gehirn und das Verhalten betreffen. Probiotika bieten ein vielversprechendes therapeutisches Potenzial zur Modulation des Mikrobioms und zur Beeinflussung der Darm-Hirn-Achse. Während die Forschung in diesem Bereich noch in den Kinderschuhen steckt, deuten die bisherigen Erkenntnisse darauf hin, dass eine gezielte Beeinflussung des Mikrobioms durch Probiotika eine wertvolle Ergänzung zu traditionellen therapeutischen Ansätzen darstellen könnte. Weitere Studien sind notwendig, um die Mechanismen besser zu verstehen und optimale Behandlungsstrategien zu entwickeln.
Literatur:
- Morais et al. Nature Reviews Microbiology 2021, 19, 241–255
- Ansari et al. Front Nutr. 2023; 10: 1173660.